Auf den Krieg um Muttermilch und Kunstmilch ist die Gastautorin Lisa Mittischek nicht nur beim eigenen Kampf mit der "natürlichen" Gabe des Stillens gestoßen - als Soziologin sind ihr einige blinde Flecken in der Geschichte aufgefallen.
Lisa Mittischek ist Soziologin, Sozial- und Geschlechterforscherin und schreibt derzeit an einer Dissertation zum Thema: „Der Stilldiskurs in Österreich im internationalen Kontext und dessen Auswirkungen auf die Elternrolle.“ - Für die Reihe "hat es nie gegeben" erzählt sie uns von ihren eigenen Stillerfahrungen und äußerst interessanten Details über das eben gar nicht so "natürliche" Stillen:
Bevor mein erstes Kind zur Welt kam, dachte ich ehrlich gesagt wenig darüber nach, womit ich mein Baby ernähren würde. Wie man überall lesen konnte, war Stillen wohl das Beste für mein Kind – also war mir irgendwie klar, ich würde es stillen. Und sollte das dann nicht so gut klappen oder sich herausstellen, dass ich Stillen gar nicht so toll fände, dann würde es eben die Flasche bekommen, wie die meisten anderen Babys auch.
Außerdem war ich überzeugt: Stillen kann ja wohl nicht so schwer sein. Frau legt das Kind an den Busen und dann wird es schon trinken. So will es die Natur. War doch schon immer so. So weit, so naiv. Völlig weltfremd und auch inhaltlich falsch.
Dann habe ich mein erstes Kind bekommen und mein zuckersüßes Schreibaby, stillte mir Stunde um Stunde die Brustwarzen wund, bis sie zu bluten begannen.
Sie verweigerte die Flasche. Sie mochte keinen Schnuller und musste sofort erbrechen, sobald sie einen künstlichen Sauger im Mund hatte.
Damit blieb also nur der Busen.
Aber das mit dem Stillen war nicht so einfach wie gedacht. Denn...
Stillen ist nichts,
das einfach irgendwo biologisch in uns angelegt ist.
Stillen ist etwas, das frau lernen muss,
wenn sie es erfolgreich tun will.
Aber wo lernt frau Stillen? Und wer zeigt es ihr?
Im Krankenhaus holte eine Krankenschwester bald nach der Geburt einfach ungefragt meinen Busen aus meinem Nachthemd und dockte mein Kind daran
an. Völlig irritiert ließ ich es geschehen - klar, ich wollte ja stillen. Aber will ich wirklich, dass mich jemand Fremdes auszieht? Muss mir das jetzt egal sein als Mama?
Natürlich hätte ich gut informiert auch einfach nackt mit meinem Kind Bonding und Stillzeit genießen können. Aber das war ich nicht. Ich hatte einfach keine Ahnung. Und leider hatte ich auch keine Hebamme, die mich auf irgendetwas sinnvoll vorbereitet hätte (obwohl ich eine hatte).
Und außerdem verliert mensch ja – nur weil man jetzt Mutter ist – nicht plötzlich sein Schamgefühl und es ist einem egal, wenn man andauernd der einzig entblößte Mensch im Raum ist.
Mittlerweile ist mir das tatsächlich egal geworden – aber das war nicht immer so – und das ist sicher nicht bei allen Menschen so.
In Österreich ist die eigene Scham, in der Öffentlichkeit zu stillen übrigens sogar gewichtiger, als die Meinung der anderen dazu.
Scham, Fläschchen-Wahrheiten und medialer Druck
Im Gegensatz zu den USA, wo öffentliches Stillen in manchen Bundesstaaten sogar verboten ist und die Öffentlichkeit sich durchs Stillen schnell belästigt fühlt, interessiert das in Österreich in der Öffentlichkeit kaum jemanden. Typische österreichische Gleichgültigkeit, könnte man sagen – und trotzdem sieht man nur selten stillende Frauen am Hauptplatz sitzen.
Denn auch abseits der Scham vor Entblößung gibt es einen weiteren Grund, warum Stillen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht vorkommt: Es stillen nicht besonders viele
Mütter wirklich lange. Laut einer österreichischen Studie von 2007 (leider gibt’s keine neuere Statistik) stillte nach 6 Monaten nur mehr die Hälfte der Mütter. Allerdings wurden
dabei auch Mütter mitgerechnet, die teilstillen – also Stillen und die Flasche geben. Über die absoluten Zahlen kann man hier also nur spekulieren, aber eigentlich ist es egal – der Kern der
Aussage ist, dass eigentlich relativ bald relativ viele Mütter ihren Kindern ein Fläschchen geben. Deshalb sind wir es auch gewöhnt, in der Öffentlichkeit Babys zu sehen,
die ein Fläschchen bekommen und eher selten Stillende.
Da in der öffentlichen Wahrnehmung aber überall sichtbar ist, dass Stillen das Beste für das Kind ist, ist es fast nicht möglich, ein Fläschchen zu geben, ohne sich - zumindest vor sich selbst - dafür zu rechtfertigen.
Der Rechtfertigungsdruck ist hoch und deshalb ist es auch kein Wunder, dass meistens „die Milch weg bleibt“. Als eine Art Code, durch die man die Verantwortung über die Situation abgibt, ist das ein universeller Fläschchen- Grund. Ich will niemandem absprechen, dass nicht genau das passiert ist (das kann z.B. auch durch Stress und psychischen Druck etc. ja wirklich passieren). Aber ich denke, oft ist es ein Code, weil frau ja auch fast nicht sagen "kann", dass sie nicht stillen möchte.
Es ist auch keine gleichwertige Entscheidung – das eine ist das Beste und das andere ist ok. Das Beste passt aber leider oft nicht gut in unser Leben – schon alleine, weil in unsere Gesellschaft so viele Erwartungen herrschen, die eine Frau stillend nicht gut erfüllen kann. Weil die konkrete Unterstützung (im Haushalt, mit den anderen Kindern, bei Stillproblemen,...) oft fehlt.
Es fehlen realistische Vorbilder und oft auch ins eigene Leben umsetzbare Strategien.
Statt vielfältigem, hilfreichem Wissen begegnet mensch Aberglauben und wenig hilfreichen Sprüchen. Und egal, wie viele medizinische Vorteile das Stillen mit sich bringt – vielleicht ist es manchen auch körperlich zu eng, zu wenig autonom (und Autonomie ist in unserer Gesellschaft auch eine sehr wichtige Kategorie), zu beschwerlich. Das Beste ist manchmal nicht das Beste fürs eigene Leben.
In den USA merkt man diese Differenz noch viel stärker als in Österreich – dort gibt es keine Elternzeit und nach dem Mutterschutz geht es meistens zurück an den Arbeitsplatz. Gleichzeitig ist dort die Diskussion noch viel ideologischer als in Österreich – denn eine gute Mutter stillt voll (während sie gleichzeitig nach nur 8 Wochen zuhause in ihren Beruf zurückkehrt).
Total realistisch... Baut bestimmt keinen Druck und keine Schuldgefühle auf...
Natürlich lässt sich in Österreich beim Stillen meistens Hilfe finden, wenn man das will und aktiv danach sucht (es gibt sogar eine ganze Menge tolle Stillberaterinnen, die meistens sogar ehrenamtlich arbeiten), aber darin liegt oft auch die erste Barriere.
Automatisch erleben die meisten nach der Geburt nur eine Mischung aus den unterschiedlichsten (oft nicht hilfreichen) Ratschlägen, kombiniert mit der Aussage, dass Stillen das Beste ist. Konkrete Hilfe hingegen, gibt es meistens nicht automatisch. Und warum genau Stillen überhaupt das Beste ist, das wissen die Wenigsten.
Über die gesundheitlichen Vorteile des Stillens (und da gibt es einige) machte ich mir kurz nach der ersten Geburt gar keine Gedanken mehr. Ich wollte einfach nur, dass es aufhört zu schmerzen. Nachdem ich im Krankenhaus eher das Gefühl hatte, dass sie mich verwirren und verunsichern wollen, begann ich zu googeln. Das Internet war damals meine letzte Hoffnung – und mir wurde geholfen.
Ab dann hätte die Geschichte einfach verlaufen können – das Stillen klappte, Thema beendet, alles ok.
Aber stattdessen googelte ich weiter und weiter (ich hatte ja während dem stundenlangen Stillen auch viel Zeit dazu). Denn was ich entdeckt hatte, faszinierte mich: Hier herrschte Krieg zwischen Eltern! Krieg ums Stillen, ums Fläschchen, ums Schlafen, ums Essen, um die richtige Tragehilfe. Aber ganz groß und ganz vorne:
Krieg um Muttermilch und Kunstmilch
Das eröffnete eine komplett neue Welt, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte (naiver Weise hatte ich ja gedacht, dass das Kind einfach das bekommt, was am besten zur Familie passt) und weil ich Sozialforscherin bin, konnte ich nicht anders, als mich da hinein zu stürzen.
Was ich bei meinen Recherchen gefunden habe?
Dass Elternschaft ein hoch ideologisches Feld ist, in dem es sehr schnell eskaliert. Dass zwar überall steht, dass Stillen das Beste für dein Kind ist – aber insgesamt relativ wenig zu dem Thema bekannt ist.
Das "natürliche" Stillen durch Mütter hat es nie gegeben...
Stattdessen gab es Ammen
Bis ins 19. Jahrhundert war es üblich, dass Kinder von Ammen gestillt wurden. Sehr viele Frauen – und nicht nur Wohlhabende, stillten nicht oder nur sehr kurz. Ammen hatten ihre eigenen Gewerkschaften und Gesetze und konnten von ihrem Beruf meist gut leben.
Eine Zeit lang war es sogar üblich, dass Babys nach der Geburt in der Stadt für zwei Jahre(!) aufs Land zu einer Amme gebracht wurden. Nach zwei Jahren (das war die übliche Stilldauer früher) holten die Eltern ihr Kind wieder ab; wenn es diese Zeit überlebt hatte zumindest, denn die Säuglingssterblichkeit war sehr hoch.
Stattdessen wurde mit "Fläschchen" gefüttert
Früher haben alle gestillt? Auch das ist nicht wahr. Denn auch vor der Erfindung der ersten leicht verwendbaren Flaschennahrung (und das war schon 1866) wurde immer wieder versucht, den Babys andere Flüssigkeiten zu geben.
Trinkgefäße für Kinder hat man sogar schon im alten Ägypten verwendet.
Im Mittelalter bastelten die Menschen dann Fläschchen aus Kuhhörnern und Eutern. Die Euter wurden zum Saugen unten an das Horn gebunden und oben wurde Milch rein gegossen. Da man damals wenig Ahnung von Hygiene hatte, faulten und schimmelten die ungewaschenen Euter recht schnell und fast alle Kinder, die so genährt wurden, starben.
(Im Museum of Childhood können übrigens solche Trinkgefäße bestaunt werden).
Oder mit Vierbeinern...
Ein anderer Fakt, der heute unvorstellbar erscheint: Wenn mensch nicht genug Geld hatte, um eine Amme anzustellen, wurde versucht, den Säugling mit sogenannten vierbeinigen Ammen zu versorgen. Meist waren das Schafe oder Ziegen, an deren Euter mensch die Babys direkt trinken ließ.
Klingt alles ein bisschen nach Gruselmärchen und hinterlässt das Gefühl, dass es das Stillen – oder zumindest das oft beschworene Selbststillen – „früher“ wohl doch nicht in dieser natürlichen Form gegeben hat.
(Anmerkung von Katja: Meine Großmutter erzählt z.B. immer
von einer Kuh des Nachbarn, die "Kindermilch" gab.
Auch bei Renz-Polster findet mensch unterschiedlichste Varianten,
was Menschen rund um die Welt ihren Säuglingen zusätzlich zu Muttermilch unterjubeln).
Nach Bedarf gestillt wird anderswo
Natürlich kann mensch einen Blick in andere Kulturen werfen und durchaus traditionelle Völker und Gemeinschaften finden, in denen alle Frauen ihre Kinder nach Bedarf stillen, bis diese sich selbst abstillen (meist zwischen 2-6 Jahren). Das ist richtig lange, wenn man die bei uns vorherrschende Ideologie bedenkt, dass nach 6 Monaten abgestillt werden kann (oder sollte), und oft gedacht wird, dass die Milch dann ja eh keinen Nährwert mehr hat. Ich habe keine Ahnung, wer diesen Aberglauben erfunden hat, aber alleine schon die Vorstellung ist seltsam, dass die Milch sich plötzlich – nach punktgenau 6 Monaten – in etwas Unsinniges verwandeln könnte.
Es gibt aber auch in unserer Gesellschaft Frauen, die ihre Kinder lange und nach Bedarf stillen. Die sogenannten Langzeitstillenden werden, ähnlich wie die Frauen, die ihre Kinder gar nicht stillen, in unserer Gesellschaft meist nicht verstanden. In erster Linie auch aus verschiedenen Aberglauben heraus (die Mutter kann sich nicht lösen zum Beispiel wäre einer der Mythen). Schaut mensch nämlich auf die oben erwähnten Gemeinschaften, zurück in die Geschichte, oder einfach auf den Code der WHO zum Thema Stillen (die empfehlen eine Stilldauer bis zu 2 Jahren und darüber hinaus, so lange Mutter und Kind das wollen), dann relativiert sich das alles.
Nach meinen Recherchen zum Thema war ich eigentlich fast schockiert, dass das Thema Säuglingsnahrung nicht regulärer Teil des Geschichte Unterrichts in jeder Schule ist. Warum hatte ich keine Ahnung davon, wie wir Menschen uns und unsere Kinder im Laufe der Geschichte ernährt haben!? Ich denke, das hätte mich interessiert.
Das wäre vermutlich auch eklig gewesen und spannend und irgendwie nachvollziehbar. Was haben die Leute gegessen, wie haben sie gelebt? Welche Ideologien gab es zu welcher Zeit? Und warum wurden Kindern so oder so erzogen?
Vielleicht würde das Wissen über die Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit alleine diesem Thema schon viel an Sprengkraft und Druck nehmen.
Stillen ist für alle da - auch für Männer
Auch die Debatte darum, ob das Stillen bestimmte Geschlechterrollen zementiert und welche das sind, löst sich in kurzer Zeit auf, wenn mensch zum Beispiel einen Blick auf die Kultur der Aka wirft. Bei den Aka stillen nämlich auch die Väter, um ihren Nachwuchs zu beruhigen: Bei einer gleichen Aufteilung an Aufgaben und Tätigkeiten im Stamm kommt dort auch den Vätern die Rolle zu, den Säugling zu versorgen. Und nachdem Babys nicht nur bei Hunger stillen wollen, sondern auch, um sich zu beruhigen und sich geborgen zu fühlen, liegt es eigentlich nahe, es so zu versuchen.
Und jetzt kommt etwas noch Unfassbareres zum Schluss:
Manche Männer beginnen sogar zu laktieren.
Was auf den ersten Blick völlig undenkbar und unvorstellbar erscheint, ist im Grunde auch wieder nur ein Dogma unserer Gesellschaft.
Denn auch im männlichen Körper sind Milchdrüsen angelegt, die durch mechanische Reize (wie das Saugen an der Brustwarze) aktiviert werden können. Bei manchen Männern sind
genug angelegt, um Milch zu bilden.
Und damit mache ich jetzt einen Punkt und lasse euch verdauen, was ihr gerade alles gelesen habt. :)
Lisa Mittischek ist neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit als Doktorandin Teil der GenderWerkstätte, arbeitet als freie Mitarbeiterin im Verein für Männer- und Geschlechterforschung und hält im SS 2016 an der KFU Graz eine Lehrveranstaltung zum Thema „Säuglingsernährung und Geschlechterrollen“