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Wo ist die Liebe hin? - Amok, Trauma, Hass und Graz

In Graz ist etwas passiert. Wer den österreichischen Autor Wolf Haas kennt weiß, dass so seine Brenner-Krimis anfangen. So in der Art. Seine Krimis sind meist etwas verwirrend, komplex aber mit Wortwitz. Möglicherweise kann dieser Artikel da anknüpfen. Bei letzterem bin ich mir nicht sicher. In Graz ist ein junger Mann Amok gelaufen. Er hat im Herzen der Stadt mehrere Menschen getötet und schwer verletzt. Nun regieren hier Schockstarre, Angst, Verzweiflung und auch blinder Hass. Ich frage mich dabei, wo die Liebe bleibt.

Wer oder was ist Graz?

In Österreich ist ja vieles recht provinziell; so auch die zweitgrößte Stadt der Bundesrepublik. 274 000 EinwohnerInnen in etwa - gesamt Island hat im Vergleich dazu mehr. Wir haben keine U-Bahn und bei jeder größeren Veranstaltung trifft mensch dieselben Leute. Wir kennen uns und unsere Stadtbezirke. Teils ja sogar die Nachbarn. Beim Lendwirbel, der Diagonale, La Strada, dem Augartenfest, dem Stadtfest oder dem Aufsteirern trifft mensch sich. Am Wochenende selten - da ist keineR da. Und die, die da sind, gehen in die Innenstadt bummeln (Schaufenster shoppen oder auch tatsächlich was kaufen). 

Obwohl ich seit meiner Studienzeit hier lebe, habe ich mich erst so richtig 2010 in Graz verliebt. Mit den Augen einer Touristin habe ich nach meiner Weltreise alle möglichen Winkel, Hinterhöfe und Prachtbauten aufgesucht und zu jeder Jahreszeit fotografiert. Fast ein Jahr lang konnte ich einfach nicht aufhören zu knipsen. 

 

Wenn Menschen vom Land sich abends nicht mehr über die Autobahn nach Graz getrauten, oder überhaupt in die Stadt zu fahren, weil dort eine Straßenbahn auch von links die Vorfahrt hat, habe ich milde gelächelt. Wenn jemand vom Land jemand anderem vom Land erzählt hat, in Graz wäre es total gefährlich, weil mensch an der roten Ampel überfallen würde, habe ich ebenfalls milde gelächelt und den Kopf geschüttelt.

 

Graz habe ich nie unsicherer erlebt als ländliche Gegenden. Ich habe in unterschiedlichsten Bezirken gewohnt. Ich bin eine Frau. Ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich Opfer von Gewalt werde in meinem privaten Umfeld um ein VIELFACHES höher ist, als in einer dunklen Gasse. Weil ich eine Frau bin, werde ich auch statistisch gesehen wesentlich seltener in Kneipenschlägereien verwickelt, als das bei Männern der Fall ist. Von allen Arten der Gewalt gibt es natürlich in einer großen Stadt mehr, als auf dem Land. Es wohnen ja auch mehr Leute dort. Eingebrochen wird wahrscheinlich mehr. 

 

Hier mal ein paar kleine Eindrücke von Graz...

Und dann plötzlich...

...fährt da jemand in rasendem Tempo durch das Herz der Stadt und mäht willentlich dutzende Menschen nieder. Etwas, dass ich nicht fassen kann, bis ich die Herrengasse selbst am selben Abend entlang gehe und die grünen Bodenmarkierungen der Spurensicherung wahrnehme. Mein Partner weist mich auf das weiße Pulver hin, dass die Blutflecken bindet. Ein dicker Kloß steckt mir im Hals. Die Trauer, die Ratlosigkeit und die Angst sind spürbar. Viele, die ich kenne waren noch kurz zuvor dort - oder kurz danach, oder wollten dorthin und haben sich in letzter Sekunde umentschieden. Manche waren auch dort und es passierte direkt vor ihren Augen.

Ich bin froh, dass ich nicht  darunter bin. Die Stadt trägt schwarz. Auf facebook und den Autobahnanzeigetafeln wird kollektiv getrauert. Obwohl auf der ganzen Welt Anschläge generell und Amokläufe von verlassenen Partnern ständig passieren, fühlen wir 274 000 und ganz besonders geschockt. Nicht nur den Menschen direkt sondern auch unserem geliebten Zentrum, hat mann weh getan.

 

2004 war ich in Madrid am Bahnhof Atocha früh morgens, um in einen Regionalzug zu steigen - mit hunderten anderen PendlerInnen. Ein Monat später zündeten die Bomben der Terrororganisation. Ich habe die Massen gesehen, die sich dort morgens in den Zug zwängen. Wir waren ebenfalls ein Teil davon gewesen - nur eben einen Monat früher. Meine Urlaubsfotos vom Parque Retiro, wo die abendliche Sonne zwischen unseren aufgestellten Beinen hindurch leuchtete, schienen mir mit einem Mal surreal gegen das Lazarett zudem es nach den Anschlägen wurde. Überall Verletzte wo wir kürzlich noch in relaxt hatten.

Ich kann mich erinnern, wie tief ich erschüttert war. Das ich mehrere Nächte weinte um "meine" SpanierInnen, deren Sprache ich gerade mit Begeisterung begonnen hatte zu lernen. Ich hatte weniger Angst um mich und was-wäre-wenn-Gedankenexperimente, sondern trauerte und fühlte mich zutiefst betroffen.

 

2010 lernte ich großartige Menschen auf meiner Weltreise kennen. Alle vier wollten zugleich nach Argentinien. Weil ein Vogel ins Triebwerk gelang und dieses lahmlegte, konnten zwei der vier nicht weiter von Santiago de Chile nach Buenos Aires, sondern wurden inzwischen in ein Hotel einquartiert. Um drei Uhr morgens bebte die Erde mit 8.8 auf der Richterskala. Lillie und Amanda waren mittendrin und beschrieben das Ereignis eindrücklich auf ihrem Reiseblog. Noch heute bekomme ich bei den Zeilen ein beklemmendes Gefühl.

 

Ich erinnere mich auch an eine Tsunamiwarnung direkt nach dem Beben für die Osterinsel. Dort saß eine andere Freundin, die wir wenige Wochen zuvor besucht hatten. Auf facebook schrieb sie mir noch, sie könne eh nix tun und trinke jetzt erstmal einen Tee. Der Tsunami kam nicht. Vier Jahre später sehe ich auf ihrer Facebookseite zahlreiche Trauerbekundungen. Der Krebs hatte sie wieder eingeholt. Sie verstarb mit 33 Jahren und ihr vermutlich jetzt dreijähriges Kind schaut mich noch immer mit großen Augen von ihrem Titelbild an. Wenn ich auf "Nachricht senden" klicke, kann ich unsere letzte Unterhaltung sehen. Unbegreiflich, wie ein Mensch, mit dem eine sich gerade noch unterhalten hat einfach so weg sein kann. Einfach so. Tot. Wir sind immer noch befreundet auf fb. 


Ich kann die Hilflosigkeit nachvollziehen, die Angst, jemanden der Liebsten zu verlieren durch ein unvorhersehbares Ereignis, die Wut auf das was passiert ist, die gefühlte Machtlosigkeit und Verzweiflung, die kollektive Suche nach einer Erklärung, mit der mensch sich zufrieden geben und besser fühlen kann. Ich weiß um die Dynamik, die solche traumatischen Ereignisse mit sich bringen und wie weit ihre Wellen schlagen. Angst ist eine nicht zu unterschätzende Kraft, aber...

Trauma ist eine Tatsache im Leben

Das steht jedenfalls in den einschlägigen Büchern, die ich zur Thematik besitze. Vieles kann traumatisch sein. Das hängt ab von unterschiedlichsten Faktoren. Die Amokfahrt in Graz ist ein ebenso traumatisches Erlebnis:

  • die betroffenen Überlebenden,
  • die Angehörigen, die AugenzeugInnen und auch
  • all jene, die gerade in einer der Umkleidekabinen der vielen Modegeschäfte entlang der Herrengasse waren und dann plötzlich auf eine von Verletzten gesäumte Straße hinaustraten,
  • und auch diejenigen, die sich gerade erst umentschieden hatten, heute doch wo anders ein Eis essen zu gehen.

Der Mann raste mit über 100 km/h durch die Fußgängerzone. Sich zu retten war mehr Glück als Reaktion.

 

Und dann denke ich als erstes, als ich davon höre, an die Menschen, die ich kenne. Jede Person in meinem Telefonbuch aus Graz kriegt ein SMS. Ich will montags nicht in die Arbeit gehen und da fehlt jemand. Das möchte ich mir ersparen. Niemand ist unter ihnen. Viele sind ans Meer gefahren an diesem Wochenende.

 

Und dann denke ich an alle, die das mitbekommen haben, teile die Nummer der eigens eingerichteten Hotline, versuche in Foren darauf aufmerksam zu machen, dass es ganz wichtig ist, das nicht mit sich allein auszumachen. Niemand soll den harten Macker spielen. Mir fallen an diesem Abend jüngere Männer auf in der Innenstadt, die zwischen ernster Miene manchmal verlegen lächeln, weil sie nicht wissen, wie sie mit dieser Situation umgehen sollen. Ich bin auch manchmal so. Mitten in einem Streit muss ich lachen aus Verlegenheit, weil ich nicht mehr weiß wohin mit meinem Gefühl.

 

Und ich denke an die Frau des Täters, die ihn wegweisen hat lassen wegen häuslicher Gewalt und an die Kinder. Ich denke daran, was sie bereits alles erdulden mussten und wie viele Vorwürfe sie sich jetzt machen werden. Hätte ich mich doch noch weiter schlagen lassen sollen und bei ihm bleiben sollen? Wäre er dann nicht ins Auto gestiegen? Und die Kinder werden irgendwann das Stigma aufschnappen, die Kinder von diesem Mörder zu sein. Sie werden sich vermutlich eines Tages fragen, ob sie auch so werden wie ihr Vater, ob sie nicht schon so sind, ob sie eine andere Wahl haben. Was wird ihnen gegenüber überwiegen - das Mitleid oder der Hass, dass dafür ein anderes Kind wegen ihrem Vater sterben musste.

 

Kurz nach der Tat befürchtete ich bereits, dass diese für politische Zwecke genutzt würde. Und wie meine Bekannte Sarah Ulrych, dass der Täter kein "Ausländer" sein möge. Nicht weil ich ein sogenannter "Gutmensch" bin, der Kriminelle beschützen möchte, wenn sie denn eine andere Nationalität besitzen, sondern weil ich diesen undifferenzierten Hass, der hierzulande so vielen Menschen um die Ohren schlägt nur schwer ertragen kann. Genauso schwer wie die Tatsache, dass jemand absichtlich Menschen getötet hat.  

Hass hat noch nie ein Problem gelöst.

Es ist egal, ob hinter der Tat religiöse oder familiäre Hintergründe als Ursachen verborgen liegen. Dass es den Versuch gibt und den Wunsch, sich das Unbegreifliche zu erklären, das kann ich gut nachvollziehen. Was ich nicht nachvollziehen kann ist, wie Hass dabei helfen soll. Das was wir in jedem Fall brauchen ist Liebe, Zusammenhalt und vor allem Menschlichkeit. 


Ich möchte nicht jedesmal allen Menschen, die nicht den Ariernachweis bringen können - und langsam kommt mir die Suche nach ausländischen Wurzeln wirklich schon derart abstrus vor - in die angstvollen Augen sehen, bemerken, wie sie sich klein und leise machen, sich verdrücken aus Angst, sie könnten die nächste Zielscheibe werden. 


Abgesehen von genetischen Dispositionen für psychische Krankheiten gibt es kaum eine "Entschuldigung" für Gewalt. Psychische Erkrankungen entstehen nicht im luftleeren Raum, genauso wenig wie das Bedürfnis, sich einer Sekte anzuschließen oder einer Terrororganisation. 

Wir werden nicht als TerroristInnen geboren.

Wir werden auch nicht als GewalttäterInnen geboren. 


 Unsere ersten Tage als Neugeborene werden vielleicht von traumatisierenden Ereignissen begleitet,

aber deshalb haben wir noch lange keine Psychose.

Was läuft denn da schief?

Menschen sind komplexe Wesen. Menschliche Beziehungen machen es nicht einfacher, sondern komplexer. Die Gesellschaft, die aus Menschen und deren Beziehungsgeflechten besteht und als gesamtes noch einmal bestimmte Werthaltungen über Generationen hinweg transportiert, trägt auch nicht wirklich zur Vereinfachung bei. 


Fragen, die mensch sich stellen kann sind:

  • Warum greifen Menschen zu häuslicher Gewalt?
  • Warum ist ihnen das Leben von anderen so egal, dass sie es ihnen nehmen?
  • Warum hacken Menschen als erste Reaktion auf TäterInnen hin anstatt Mitgefühl für die Opfer zu zeigen und ihnen beizustehen?
  • Warum muss immer jemand anders für das eigene Scheitern Schuld tragen?

Thomas Hahn hat vor einiger Zeit meinen Artikel "Damit mein Kind kein Täter wird" als Gastautor unterstützt. Er schreibt darin von Wut- und Glücksspiralen und wie Kinder lernen, mit ihren nicht-erfüllten Bedürfnissen umzugehen. Besonders Jungen/Männer lernen von ihrer Umwelt - auch ganz unabhängig von einem liebevollen oder eher vernachlässigenden Elternhaus - dass Mann sein etwas mit Draufhauen zu tun hat. Angriff ist die beste Verteidigung. Angriff ist ein Zeichen von Macht. Macht gibt das Gefühl von Kontrolle auch bei eigentlichem Kontrollverlust. 

Wenn Eltern sich nicht mehr zu helfen wissen und über Ohrfeigen nachdenken oder sie verteilen, verleiht ihnen das vielleicht kurzzeitig das Gefühl, die Lage unter Kontrolle zu haben. In Wahrheit sind sie ohnmächtig und haben keine Ahnung, was sie tun können, was sie "falsch" machen. 


Wenn Menschen sofort mit blindem Hass auf die vermeintlichen Feinde verbal eindreschen, fühlt sich das ebenso mächtig an und ist in Wahrheit ebenso ohnmächtig.

 Babys hassen nicht von Geburt an. 

 

Aber was passiert mit Menschen, dass sie es irgendwann tun?


Ich wünsche mir...

  • meine Stadt zurück
  • dass alle die zutiefst geschockt und geängstigt wegen des Amoklaufs sind, sich gut erholen können und keine Traumafolge-Erkrankungen entwickeln
  • dass alle Männer die Augenzeugen oder betroffen waren, ein Umfeld haben, in dem sie sich ausweinen können und auch mal schwach sein dürfen
  • dass die Frau des Täters zur Ruhe kommt und sie und ihre Kinder die Schuldgefühle, die sich sich vermutlich machen oder die ihnen zugetragen werden, von sich weisen können
  • dass die Menschen in meiner Stadt unabhängig vom Tatmotiv zusammenhalten und ihre Wut nicht auf Menschen richten, die nichts mit den Ereignissen zu tun haben
  • dass die Menschen in meiner Stadt sich auch am Sonntag beim Trauerzug in den Arm nehmen und sich ohne Schuldzuweisungen trösten
  • dass wir alle ein bisschen mehr aufeinander schauen und auch sagen, wenn es uns mal ehrlich nicht gut geht
  • dass wir alle authentisch sind und nicht versuchen irgendwelche Rollen für irgendwen zu spielen
  • dass wir unseren Kindern keine Märchen über den Tod erzählen und sie im Dunkeln darüber lassen, was passiert ist. Kinder müssen lernen, mit traumatischen Erlebnissen umzugehen
  • dass wir unseren Kindern und auch denen der Nachbarn so liebevoll begegnen wie nur möglich und sie dabei begleiten und unterstützen zu starken und widerstandsfähigen Menschen heranzuwachsen, die solche und die zahlreichen anderen traumatischen Erlebnisse, die uns im Laufe des Lebens begegnen gut ver- und bearbeiten können
  • dass wir unsere Gefühle zeigen - die Wut, die Trauer, die Verzweiflung und die Angst. Sie gehören genauso zum Leben wie die Begeisterung, die Freude und die Liebe. 

Trauma ist eine Tatsache im Leben.

Die menschliche Widerstandsfähigkeit auch. 


Unterstützen wir uns doch gegenseitig dabei,

widerstandsfähig wie Bambus zu sein.


Aja. Um beschwingt zu schließen: Ich hab mal in Kambodscha was gegessen, das hieß auch Amok. War sehr lecker. In allem Schlechten, steckt auch was Gutes.


So, und jetzt erzähl mal, wie geht es dir heute eigentlich?



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